Kurzer Einblick, aktuelle Wirtschaftslage & derzeitige Lage am Arbeitsmarkt in Ungarn (Stand – Jan. 2020)
Etwa vierzig Kilometer nördlich von Budapest liegt eine alte Königsstadt, die einem immer wichtiger werdenden Bündnis seinen Namen gab. Am sogenannten Donauknie schlossen sich im Jahr 1991 Ungarn, Polen und die damalige Tschechoslowakei zur sogenannten Visegrád-Gruppe zusammen. Die Wahl des Ortes erfolgte aus gutem Grund: Etwa 650 Jahre zuvor lud der ungarische König Karl I. die Herrscher aus Böhmen und Polen zu einem Gipfeltreffen in seinen Palast ein, um gemeinsam mit ihnen Wirtschaft und Handel zu entwickeln und einen „immerwährenden Frieden“ zu schließen.
Die Visegrád-Gruppe steht genau in dieser Tradition. Gegründet zum Austausch von Informationen, für die wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit, aber auch um politische Positionen miteinander abzustimmen, gilt sie als mitteleuropäisches Pendant zu Benelux. Politisch gesehen ist V4, so die Abkürzung für das nach dem Ende der ČSFR nun vier Staaten umfassende Bündnis, allerdings schlagkräftiger. Ob bei der Flüchtlingsquote oder beim Erreichen von Klimazielen: Gegenüber der EU tritt die Visegrád-Gruppe in aller Regel geschlossen auf und setzt sich dabei auch immer öfter durch.
Die Öffentlichkeit in den alten EU-Mitgliedsstaaten reagiert auf in Ungarn, Polen oder Tschechien verbreitete Ansichten nicht selten mit Kopfschütteln und Unverständnis. Eine Mehrheit in Deutschland oder Frankreich scheint das Motto der Europäischen Union einfach nicht zu verstehen. „Einheit in Vielfalt“ heißt eben auch, dass es neben gemeinsamen Werten auch gesellschaftliche Unterschiede innerhalb der Staatengemeinschaft gibt. Doch der „Westen“ scheint das nicht akzeptieren zu wollen und brandmarkt andere politische Ansichten gern als „Anti-Europäismus“ oder „Europhobie“. Dabei findet man gerade in der Mitte Europas, vor allem in Ungarn, die leidenschaftlichsten Verfechter der europäischen Idee (was auch eng mit der historischen Identität dieser Nationen zusammenhängt). Nicht wenige Experten sind der Ansicht, dass der Rechtspopulismus in Mittel-/Osteuropa auch von der Arroganz des Westens bestärkt wird.
Die Visegrád-Gruppe beeindruckt mit einem dynamischen Wirtschaftswachstum, allen voran Ungarn.
In wirtschaftlicher Hinsicht wächst die Region stärker als jede andere in der Union. Zusammen bilden Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei mit ihren knapp 65 Millionen Einwohnern die fünftgrößte Wirtschaft innerhalb der EU. Das BIP der 27 EU-Länder stieg 2019 im Schnitt um 1,5 Prozent, das der Eurozone sogar nur um 1,2 Prozent. Hingegen betrug der BIP-Anstieg für Tschechien und die Slowakei um 2,5 Prozent, für Polen 4,0 Prozent – und für Ungarn sogar 4,9 Prozent. Es liegt auf der Hand: Nach dem Ausscheiden der Briten aus der Europäischen Union verschiebt sich das Machtgefüge in Richtung Osten, die Visegrád-Gruppe gewinnt an Gewicht. Das deutsch-französische Modell als Fundament der EU hat ausgedient.
Eine Hauptrolle in der wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte der Visegrád-Gruppe spielt Ungarns Regierungschef Viktor Orbán. Der Nationalkonservative bekleidet das Amt des Ministerpräsidenten seit zehn Jahren (zuvor stand er bereits zwischen 1998 und 2002 der Regierung vor). Vor allem westliche Politiker und Medien erheben immer wieder den Vorwurf, dass er und seine Fidesz-Partei Menschen- und Bürgerrechte einschränken würden. Dabei kam selbst die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik – eine renommierte Denkfabrik mit Sitz in Berlin – zum Schluss, dass Ungarn unter Orbán ein freiheitlicher und demokratischer Rechtsstaat sei. Noch dazu ein Rechtsstaat, der über hervorragende makroökonomische Daten verfügt …
Seit 2014 wächst die ungarische Wirtschaft pro Jahr um durchschnittlich vier Prozent (zum Vergleich: das BIP stieg in Deutschland im gleichen Zeitraum im Schnitt nur um 1,8 Prozent). Die Staatsschulden gehen kontinuierlich zurück (2010: rund 80 Prozent, 2018: rund 68 Prozent des BIP), das Haushaltsdefizit liegt seit 2011 unter der Grenze von drei Prozent. Sehen lassen können sich auch die niedrige Arbeitslosigkeit (2019: rund 3,5 Prozent) und das rasante Lohnwachstum (die Reallöhne stiegen 2019 erneut um gut vier Prozent).
Vor 2010, also vor Orbáns Wahl zum Ministerpräsidenten, steckte Ungarn noch in einer tiefen Wirtschaftskrise. Mit dem „ungarischen Modell“ konnte sie überwunden werden. Auch deswegen steht eine Mehrheit der ungarischen Bevölkerung hinter ihrem Regierungschef (bei der Parlamentswahl 2018 erhielt Fidesz beeindruckende 49,3 Prozent der Stimmen). Das Modell fußt auf mehreren Säulen. Eine davon ist die Vollbeschäftigung, eine auf Arbeit basierende Wirtschaft. Wichtig dabei: Probleme, die sich aus der demographischen Entwicklung oder der Situation auf dem Arbeitsmarkt ergeben, sollen – im Gegensatz etwa zum „deutschen Weg“ – nicht über Zuwanderung gelöst werden. Eine weitere Säule ist die Förderung des einheimischen Unternehmertums. Internationale Konzerne, die in Ungarn tätig sind, werden an den Kosten der Wirtschaftsentwicklung beteiligt. Außerdem, das sieht die dritte Säule vor, müssen Arbeitsmarktregelungen, Berufsausbildung und das Steuersystem flexibel bleiben.
Unternehmen in Ungarn zahlen die niedrigste Körperschaftsteuer in der EU. Die Einkommensteuer wurde auf eine Flatrate reduziert.
2017 hatte die Regierung Orbán die Mindestlöhne erheblich erhöht (für unqualifizierte Arbeitskräfte um 15 Prozent, für qualifizierte Arbeitskräfte um 25 Prozent), wovon damals etwa jeder vierte ungarische Arbeitnehmer profitierte. Der generelle Lohnanstieg ist allerdings auch ein Ergebnis des Arbeitskräftemangels in Ungarn. In ganz Mittel- und Osteuropa gestaltet sich die Rekrutierung von qualifizierten Mitarbeitern immer schwieriger. Um an Personal zu kommen, müssen die Unternehmen den Kandidaten höhere Löhne bieten. Doch eine gute Entlohnung allein genügt längst nicht mehr, um am ungarischen Markt erfolgreich zu sein – eine Herausforderung für Unternehmen, Headhunter und Personalberater. Für uns von Scherl & Partner gehört Ungarn im Bereich der qualifizierten Personalsuche erfahrungsgemäß zu einem der schwierigsten Märkte.
Klassische Stellenanzeigen bringen in den allermeisten Fällen keinen Erfolg mehr. Eine Tatsache, die auch unsere Kunden immer wieder bestätigen. Clevere Unternehmer nutzen schon längst die Dienste professioneller Personalvermittler und/oder versierter Headhunter. Das gilt für Positionen wie Area Sales Manager ebenso wie für technische Berufe, etwa Konstrukteure, Servicetechniker, Anwendungstechniker etc.
Top-Positionen im Management, sei es Vertrieb oder Produktion, können über Anzeigen im Internet so gut wie gar nicht besetzt werden. In ungarischen Online-Jobbörsen sind solche Stellen sehr rar gesät. Die Suche nach Kandidaten für Positionen wie Geschäftsführer Vertrieb, Technischer Geschäftsführer oder Werksleiter findet fast ausschließlich über kompetente und erfahrene Personalberater und Personaldienstleister statt.
Verschärft wird der Personalmangel durch die Abwanderung von gut ausgebildeten ungarischen Arbeitskräften nach Westeuropa, vor allem nach Deutschland, Österreich und Großbritannien. Um die höheren Lohnausgaben für die in Ungarn tätigen Unternehmen zu kompensieren, reduzierte die Regierung nicht nur die indirekten Arbeitskosten (Lohnnebenkosten seit 2019: 17,5 Prozent), sondern führte auch eine Körperschaftsteuer von lediglich neun Prozent ein. In keinem EU-Land fällt dieser Steuersatz niedriger aus als in Ungarn. Zum Vergleich: Der Körperschaftsteuersatz in Bulgarien beträgt 10 Prozent, in Deutschland 15 Prozent, in Österreich 25 Prozent und in Griechenland sogar 29 Prozent. Auch bei der Einkommensteuer gibt es in Ungarn nur einen einzigen Steuersatz (15 Prozent). Eine solche Flatrate kennt man in Europa nur noch in Tschechien, Rumänien, Bulgarien und Estland. Während Ungarn zu einem Steuerparadies für Unternehmen aufgestiegen ist und auch für ausländische Arbeitnehmer immer attraktiver wird, entwickelt sich das Steuerrecht etwa in der Bundesrepublik Deutschland zu einem echten Wettbewerbsnachteil. Aufgrund des hohen Anteils an Sozialabgaben (20,6 Prozent für ledige Arbeitnehmer) sind in Deutschland vor allem die Einkommen von Geringverdienern und Alleinerziehenden extrem belastet. Im internationalen Vergleich fallen die Abzüge aber auch für andere Arbeitnehmer und für Unternehmen überdurchschnittlich hoch aus.
Die ungarische Regierung setzt auf innovative Technologien – und lässt Sozialhilfe-Empfänger arbeiten.
Ein Ende 2018 in Kraft getretenes Arbeitsgesetz verdeutlicht, wie konsequent die ungarische Regierung den Umbau vom Wohlfahrts- zum Arbeitsstaat verfolgt. Mit ihm können Arbeitnehmer anstatt wie zuvor 250 nun 400 Überstunden pro Jahr leisten. Zudem muss die Mehrarbeit nicht mehr binnen eines Jahres, sondern erst innerhalb von drei Jahren vergütet werden. Welche Bedeutung die Arbeit für die ungarische Gesellschaft heutzutage hat, zeigt auch der Umgang mit Sozialhilfeempfängern. Staatliche Leistungen erhalten sie kaum. Stattdessen sind sie verpflichtet, kommunale und gemeinnützige Arbeiten zu übernehmen.
Damit es künftig mehr Fachkräfte in Ungarn gibt, hat der Staat die Initiative „Berufsbildung 4.0“ gestartet. Derzeit wird in dem 10-Millionen-Einwohner-Land ein modernes und flexibles Ausbildungssystem aufgebaut. Die Weichen für die Zukunft soll auch das erst 2018 geschaffene Ministerium für Innovation und Technologie stellen. Nach den Plänen der Regierung Orbán wird Ungarn im kommenden Jahrzehnt zu einem weltweiten Zentrum für innovative Technologien aufsteigen. Der Staat investiert kräftig im Bereich Forschung und Entwicklung und fördert multinationale Projekte.
Der Automobil-Sektor bildet unbestritten das Herzstück der ungarischen Wirtschaft. Mit Mercedes-Benz, BMW, Audi, Opel und Suzuki haben fünf ausländische Hersteller Werke in Ungarn errichtet. Außerdem gibt es im Land etwa 700 Zulieferer, Tendenz steigend. Die vor der politischen Wende 1989/90 bedeutenden Nutzfahrzeughersteller und Exportschlager Ikarus oder Ganz haben heute nur noch einen geringen, nationalen Stellenwert.
In der ungarischen Automobilbranche arbeiten über 170.000 Beschäftigte, etwa fünf Prozent aller ungarischen Arbeitnehmer. Der Sektor trägt über zehn Prozent zur Wirtschaftsleistung des Landes bei, allein die Fahrzeugproduktion macht sechs Prozent aus. Ist das Ende der Fahnenstange erreicht? Wohl kaum! Die Regierung in Budapest hat sich ein ambitioniertes Ziel gesetzt: Ungarn soll in naher Zukunft zum Produktionszentrum Europas werden.
Ungarn ist „friedlicher“ und bei ausländischen Fachkräften beliebter als Deutschland.
Ungarns Wirtschaft ist äußerst exportorientiert (die Autobranche macht fast ein Viertel aus) und erwirtschaftet einen beträchtlichen Handelsüberschuss (2018: 4,1 Milliarden US-Dollar). Die Ausfuhren von Waren und Leistungen entsprechen rund 90 Prozent des BIP – in Deutschland sind es nur 47 Prozent. Rund drei Viertel des Warenverkehrs wird mit den EU-Mitgliedsstaaten abgewickelt, mit Abstand bedeutendster Handelspartner ist Deutschland. Auf die Bundesrepublik entfällt über ein Viertel des Außenhandels, wobei es sich hierbei vor allem um Kraftfahrzeuge und Maschinen handelt. Der Großteil der Exporte, knapp 80 Prozent, ging in die EU. Beim Import liegt Deutschland (26 Prozent) ebenfalls mit großem Abstand vorn, gefolgt von Österreich und Polen mit jeweils rund sechs Prozent.
Wegen des hohen Bildungsniveaus, exzellenter Fremdsprachen-Kenntnisse und im EU-Vergleich immer noch niedrigen Lohnkosten gehört Ungarn zu den attraktivsten Standorten für Dienstleistungszentren (Callcenter, Shared Service Center). Im tertiären Sektor arbeiten 65 Prozent aller Beschäftigten, etwa 30 Prozent in der Industrie und fünf Prozent in der Landwirtschaft.
Eine wichtige Rolle für Ungarns Wirtschaft spielt der Tourismus. Die Zahl der ausländischen Gäste hat sich in den vergangenen 20 Jahren mehr als verdoppelt. Entsprechend sind auch die internationalen Tourismus-Einnahmen gestiegen: Rund 8,5 Milliarden US-Dollar machten im Jahr 2017 rund sechs Prozent am ungarischen BIP aus. Anziehungspunkte für Touristen sind vor allem die Hauptstadt Budapest, die Puszta und der Plattensee (Balaton). Auch Thermal- und Heilbäder, im ganzen Land gibt es mehr als 1.300 Thermalquellen, stehen bei Besuchern hoch im Kurs.
Einen Beleg für die positive Entwicklung der ungarischen Wirtschaft liefern auch internationale Studien und Ranglisten. Im aktuellen „Global Competitiveness Index“, der die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes misst, belegt Ungarn Platz 47 von 137 Ländern. Das Land hat sich im Vergleich zum Vorjahr um 13 Positionen vorgearbeitet – und liegt etwa vor Rumänien (51.), Kroatien (63.) und Serbien (72.).
Im „Global Peace Index“ reiht sich Ungarn als 21. einen Platz vor Deutschland ein. Und das ist kein Einzelfall. Laut einer internationalen Studie des Netzwerks „Internations“ ist das Image der Ungarn bei ausländischen Fachkräften besser als das der Deutschen. Im „Expat Insider 2019“ stürzte Deutschland in Sachen Beliebtheit dramatisch ab. Belegte das Land im Jahr 2014 (also vor der Flüchtlingskrise) noch einen passablen zwölften Platz, landet es mittlerweile nur noch auf Platz 33 von 64 Ländern – und damit hinter Ungarn (30.), Bulgarien (11.) oder Tschechien (10.). Wenn es um die Eingewöhnung im Gastland geht, gehört Deutschland sogar zu den Schlusslichtern weltweit (Platz 60).