Kurzer Einblick, aktuelle Wirtschaftslage & derzeitige Lage am Arbeitsmarkt in Russland (Stand – Jan. 2020)
Bei seinem Besuch in Berlin im Februar 2020 verwies der russische Wirtschaftsminister Denis Manturow seine Gesprächspartner immer wieder auf eine aktuelle Studie der Weltbank. Genauer gesagt auf den „Ease of Doing Business Index 2020“, der die Geschäftsfreundlichkeit und Unternehmensregulierung von 190 Volkswirtschaften vergleicht. Denn wie keine andere Studie belegt sie, welche Fortschritte die russische Politik auf diesem Gebiet erzielt hat. Im Jahr 2013 landete Russland noch auf dem 112. Platz, zwei Jahre später schon auf dem 62., und heute auf einem bemerkenswerten Rang 28. Der russische Minister bemerkte durchaus süffisant, dass Deutschland auf Platz 22 plötzlich ganz in Reichweite sei. Auf der Russland-Konferenz der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) warb er bei den deutschen Unternehmern für den Produktionsstandort Russland. Die Deutschen sollten nicht nur exportieren (Deutschland ist nach China immerhin noch das zweitgrößte Importland), sondern endlich mehr direkt in Russland produzieren.
Die sogenannte Lokalisierung, also die Verlegung von Produktionskapazitäten aus dem Ausland nach Russland, gehört seit Jahren zu den Schwerpunkten russischer Wirtschaftspolitik. Laut dem Vorsitzenden der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer Matthias Schepp hängt das auch damit zusammen, dass sich Moskau im Zuge der EU-Sanktionen bemüht, Importe zu ersetzen. „Um den lokal produzierten Anteil zu erhöhen, müssen russische oder in Russland ansässige Zulieferer gefunden werden, die Teile oder Rohstoffe in ausreichender Qualität liefern können“, meinte Schepp schon Ende 2017. Seiner Meinung nach sei das „keine leichte Aufgabe“. Zudem stelle es gerade in den russischen Regionen ein Problem dar, qualifizierte Fachkräfte zu finden. In Berlin fand der AHK-Vorsitzende fast nur lobende Worte für Russland. Die Werke deutscher Investoren seien dort heute schon moderner als deren Stammhäuser. Viele von ihnen betreiben in Russland bereits eigene Forschungs- und Entwicklungsabteilungen, etwa der Industriekonzern Linde, der bei Samara ungefähr 2.000 Ingenieure beschäftigt.
Das Ausbildungsniveau der russischen Bevölkerung ist sehr hoch. Und was man bei der enormen Größe des Landes und der Abgeschiedenheit mancher Regionen vielleicht nicht denken würde: Die Alphabetisierungsrate beträgt nahezu hundert Prozent. Die jüngere Generation (bis 45 Jahre) spricht fast wie selbstverständlich mehrere Sprachen. Das russische Bildungssystem genießt im Ausland – aber auch bei den Russen selbst – hohes Ansehen.
Zurück zum vielsagenden „Doing Business Index“ der Weltbank: Dass sich Russland in der Liste, für die über 12.500 Experten und Ökonomen befragt wurden, innerhalb von sieben Jahren um über 80 Positionen verbessert hat, ist tatsächlich ein Verdienst der russischen Regierung. Eine ähnlich positive Entwicklung hat nur China vorzuweisen, das sich um stolze 60 Plätze vorarbeitete. Im Vergleich zu anderen Ländern in Mittel-/Osteuropa steht Russland nur noch hinter Georgien und den baltischen Staaten. Japan, Spanien oder Frankreich schneiden schlechter ab.
Punkten kann Russland etwa beim „Zugang zu Elektrizität“, der „Vertragssicherheit“, der „Eigentumsregistratur“, dem „Zugang zu Krediten“ und beim „Erwerb einer Baugenehmigung“. Den größten Unterschied zu Deutschland, das im Fünf-Jahres-Vergleich vom 14. auf den 22. Platz abgerutscht ist, gibt es im Bereich der Unternehmensgründung: In Hinblick auf den Aufwand und das dafür benötigte Kapital platziert sich Russland im internationalen Vergleich als 40. relativ gut, Deutschland lediglich auf einem beschämenden Rang 125. Um Kritikern der Studie den Wind aus den Segeln zu nehmen: Natürlich bleiben Faktoren wie Korruption oder der Wohlstand eines Landes in dem Index unberücksichtigt. Allerdings sollte man sich vor Augen halten, dass die Ergebnisse auf den Ansichten potenzieller ausländischer Investoren beruhen, und nicht auf denen inländischer Kleinunternehmer …
Unter den russischen Wirtschaftszentren schneiden in der Weltbank-Studie in Europa gelegene Städte wie Wladikawkas, Rostow am Don, Kasan und Kaluga am besten ab. Die „geschäftsfreundlichste Stadt“ in Russland heißt Uljanowsk. Der Geburtsort des Revolutionsführers Wladimir Iljitsch Uljanow (Lenin), nach dem die Großstadt seit 1924 benannt ist, gilt als bedeutender Industriestandort. Automobil- und Flugzeughersteller wie UAZ und Aviastar-SP haben hier ebenso ihren Hauptsitz wie Rüstungsbetriebe oder die Frachtfluggesellschaft Volga-Dnepr Airlines. Auch zahlreiche deutsche Unternehmen wie die Schaeffler-Gruppe oder der Maschinenhersteller DMG Mori haben sich an der Wolga niedergelassen. Überhaupt ist der russische Markt für Maschinen und Anlagen seit längerer Zeit äußerst lukrativ. Positiv entwickelt sich auch die Kraftfahrzeugindustrie als deren Abnehmer. Dazu leisten auch internationale Automobilkonzerne wie Volkswagen, Renault, Volvo oder Daimler einen Beitrag. Die bekanntesten russischen Autohersteller sind AwtoWAS („Lada“), KAMAZ, Ischmasch und die GAZ-Gruppe. Allein in den Betrieben der beiden erstgenannten Unternehmen arbeiten über 80.000 russische Arbeitskräfte. Inzwischen kooperieren die Kraftwagenhersteller mit ausländischen Konzernen, wodurch neue Montagewerke entstanden und immer noch entstehen.
Gute Wachstumschancen bescheinigt der russischen Wirtschaft der vom Weltwirtschaftsforum (WEF) erstellte „Global Competitiveness Report“. In dem Index, der die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes misst, arbeitet sich Russland immer weiter vor. 2019 belegte es von 141 Ländern den 43. Platz – und liegt damit auf Augenhöhe mit der Slowakei, Polen und den baltischen Staaten.
Russen gelten generell freundlicher und aufgeschlossener gegenüber Fremden als Deutsche.
Und wie schätzen ausländische Fachkräfte die Situation in Russland ein? Was für ein Image haben die Russen bei den sogenannten Expats? Das Netzwerk „Internations“ nimmt mit seinem „Expat Insider“ seit 2014 über 60 Länder unter die Lupe und befragt dafür mittlerweile mehr als 20.000 im Ausland lebende und arbeitende Personen, darunter natürlich auch Arbeitskräfte aus Russland. Emotional geprägte Faktoren werden dabei genauso bewertet wie sachbezogene Kriterien. Gerade der Vergleich zwischen Russland und Deutschland ist überaus interessant: Ausländer gewöhnen sich viel leichter in Russland ein als in Deutschland (in der 2014 durchgeführten Erhebung, also vor der Flüchtlingskrise, schnitt Deutschland in diesem Punkt bedeutend besser ab). Auch russische Freunde fände man viel einfacher: Russland steht beim Indikator „Finding Friends“ auf Platz 37, Deutschland auf Platz 59.
Laut dem „Expat Insider 2019“ sind Russen generell freundlicher und aufgeschlossener gegenüber Fremden. Für Russland sprächen auch die geringeren Lebenskosten und eine niedrige Kriminalitätsrate. In Moskau zum Beispiel hängen über 100.000 Überwachungskameras zur Gesichtserkennung – auf öffentlichen Plätzen, in Bussen, Einkaufszentren und Hauseingängen. 2020 soll das Netz noch ausgebaut werden, die Zahl der Kameras sich mehr als verdoppeln. Die permanente Überwachung und die starke Präsenz der Polizei wird vor allem in den westlichen Medien oft kritisiert. Doch werden darüber Tausende von Verbrechen aufgedeckt, die sonst ungesühnt blieben. Fest steht: Wer sich an die „Spielregeln“ hält, kann in Russland sehr ruhig leben.
Dass Russland viel besser ist als sein Ruf können auch wir von Scherl & Partner bestätigen. Für westeuropäische Unternehmer etwa bietet die russische Geschäftswelt sehr gute Perspektiven. Das Verhältnis des Westens ist oft von Vorurteilen geprägt, in den Medien wird über korrupte Oligarchen und dubiose Seilschaften berichtet, die Wirtschaft sei marode, Investitionen lohnten sich kaum. Man sollte nicht den Fehler begehen und Russland mit anderen osteuropäischen Ländern „in einen Topf werfen“. Nachdem der Kalte Krieg vorüber war und sich der Warschauer Pakt aufgelöst hatte, gestaltete sich die Ausgangslage der Sowjetunion (bzw. ab Ende 1991 die der Russischen Föderation) viel schwieriger als die der ehemaligen Satellitenstaaten. Tschechien zum Beispiel verfügte nach der „Wende“ als traditionelles Industrieland mit der entsprechenden Infrastruktur über viel bessere Startbedingungen. Es leuchtet doch ein, dass es eine weitaus größere Herausforderung darstellt, ein derart großes (Russland ist zum Beispiel 220 Mal größer als Tschechien) und heterogenes Land zu regieren und zu entwickeln.
Russland ist in insgesamt elf Zeitzonen eingeteilt, auf seinem Territorium leben über hundert Völker (in einigen Statistiken ist sogar von 150 ethnischen Gruppen die Rede) – mit den unterschiedlichsten Religionen. Um die nichtrussischen Nationalitäten – die rund 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen – miteinzubeziehen, lautet die offizielle Staatsbezeichnung übrigens auch „Rossijskaja Federazija“, also „Russländische Föderation“. Im Deutschen hat sich trotzdem der Begriff „Russische Föderation“ eingebürgert. Die Bevölkerung Russlands ist sehr ungleichmäßig verteilt: 85 Prozent der Einwohner leben im europäischen Teil, der weniger als ein Viertel des Territoriums umfasst. Dementsprechend leben nur 15 Prozent im flächenmäßig weitaus größeren asiatischen Teil.
Der orthodoxe Glaube spielt eine wesentliche Rolle an der Entfremdung Russlands vom Rest Europas.
Nicht wenige fragen sich: Sind Russen eigentlich Europäer? Die Antwort lautet eindeutig ja. Allerdings unterscheiden sie sich zum Teil deutlich von anderen Europäern – die natürlich auch keine homogene Gruppe sind. Der vielleicht größte Unterschied (vor allem zu den Westeuropäern) ergibt sich aus der Religion: Etwa 75 Prozent der Bevölkerung bekennen sich zum russisch-orthodoxen Glauben. Für viele Russen gilt der Spruch: „Russe gleich orthodox“. Die orthodoxe Christianisierung geht bis ins 10. Jahrhundert zurück und ist damit älter als der erste russische Staat. Gemeint ist das im 15. Jahrhundert von Iwan dem Großen zentralisierte Reich. Der Moskauer Großfürst hatte zuvor die Herrschaft der Mongolen beendet, die für über 200 Jahre die Beziehungen zum Westen unterbrach und auch die Abkapselung des orthodoxen Russlands förderte. Nach Ansicht des russlanddeutschen Soziologen Sergej Henke spielt gerade die Orthodoxie eine wesentliche Rolle an der Entfremdung Russlands von der gesamteuropäischen Kulturgeschichte. „Der Ausschluss von ihren Umbrüchen – der Renaissance, der Reformation und der Aufklärung – vertiefte den Wertedissens, der auch heute noch im politischen Alltagsgeschäft zu spüren ist.“ Die byzantinisch-orthodoxe Kirche habe auch die „russische Befindlichkeit gegenüber dem Westen“ geprägt: das Gefühl einer Randexistenz, aber gleichzeitig auch das der geistigen Überlegenheit gegenüber den „Lateinern“.
Am Stellenwert der orthodoxen Kirche konnte auch die über rund 70 Jahre verordnete atheistische Staatsideologie des Marxismus-Leninismus wenig ändern. Nach dem Zerfall der UdSSR besann sich die Gesellschaft auf religiöse Werte zurück. Umfragen zufolge sprechen die Russen der orthodoxen Kirche heute das zweitgrößte Vertrauen zu – nach Präsident Putin.
Dank Putin spielt Russland wieder auf der Weltbühne mit – bei seinen Landleuten genießt er Kultstatus.
Nach Überwindung der Transformationskrise in den neunziger Jahren – eingespielte Handelsbeziehungen fielen weg, der Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft gelang nur teilweise, das BIP sank um rund 40 Prozent – ging es mit der Wirtschaft wieder bergauf. Jelzins „Minimalstaat-Politik“ und die Ära des Bankrotts waren Geschichte. Für die Kehrtwende und quasi den Beginn einer neuen Zeitrechnung sorgte Wladimir Wladimirowitsch Putin, seit dem Jahr 2000 der erste Mann im Staat. Ihm ist ein bemerkenswerter Aufstieg gelungen: Der Staatslenker hat Russland zurück auf die politische Weltbühne geführt – und es erneut zu einer der stärksten internationalen Militärmächte aufgebaut. Zwischen 2013 und 2016 wurde Putin vom „Forbes Magazine“ viermal in Folge zum „mächtigsten Menschen der Welt“ gewählt – und steht in dieser Liste der „most powerful people“ seit 2011 ununterbrochen unter den Top 3. Der ehemalige Geheimdienstchef aus Leningrad, heute wieder Sankt Petersburg, ist das Staatsoberhaupt einer Weltmacht. Seine Zustimmungswerte sind (auch trotz in jüngster Vergangenheit durchgeführter und beim Volk unpopulärer Sozialreformen) – ungebrochen hoch. Putin genießt bei seinen russischen Landsleuten inzwischen Kultstatus. Und auch bei den Völkern in Osteuropa ist er überaus beliebt. Laut einer Studie des Forschungsinstituts Globsec bringen ihm etwa über 70 Prozent der Bulgaren Sympathie entgegen. Demnach ist Putin in den meisten der untersuchten Länder sogar beliebter als die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel: neben Bulgarien in Tschechien, Ungarn und der Slowakei.
So wie der ehemalige KGB-Offizier in Dresden und die studierte Physikerin aus der Uckermark haben auch Russland und Deutschland ein ambivalentes Verhältnis. Historisch und kulturell auf das Engste miteinander verbunden, sind die Beziehungen vor allem seit dem Beginn der „Ukraine-Krise“ im Jahr 2014 angespannt. Beide Staaten haben wirtschaftliche Sanktionen gegeneinander verhängt. Trotzdem bleibt Deutschland – nicht nur wegen der viel diskutierten Ostsee-Pipeline – einer der wichtigsten Handelspartner für Russland (dem Außenhandelsvolumen nach liegt Deutschland nach China auf Rang 2). Der russische Schriftsteller Wladimir Sorokin, der abwechselnd in Moskau und Berlin lebt, sagte einmal über das deutsch-russische Verhältnis. Mit den beiden Ländern sei es „wie mit einem alten Liebespaar. Mal umarmen sie sich und geben sich der Liebe hin, mal schlagen sie aufeinander ein und beginnen blutige Kriege“.
Laut Meinungsumfragen ist das Ansehen der Deutschen in Russland in den vergangenen Jahren, vor allem wegen Bundeskanzlerin Merkel und der Rolle Deutschlands in der Ukraine-Krise – deutlich gesunken. Vieles erinnert dabei an eine „enttäuschte Liebe“. Denn das Deutschland-Bild ist in Russland im Grunde genommen immer noch positiv. Von vielen werden deutsche und russische Wesensart als sehr ähnlich aufgefasst. Eine Ansicht, die historisch gewachsen ist. „Deutsche Tugenden“ wie Ordnung, Fleiß, Disziplin und Pünktlichkeit werden überaus geschätzt. In Werken großer russischer Schriftsteller wie Tolstoi oder Dostojewski werden die Deutschen durchweg positiv dargestellt, mitunter als Protagonisten. Der russisch-deutsche Soziologe und Philosoph Fedor Stepun (1884-1965) drückte es einmal so aus: „Die Rettung für Deutschland kommt aus Russland, so wie sie für Russland aus Deutschland kommt.“ Deutsche Regierungspolitiker sollten sich diesen Satz endlich auf die Fahnen schreiben. Sie waren es auch, die für eine Art Eiszeit in den bilateralen Beziehungen sorgten. Am Ende schadeten sie damit auch der Wirtschaft.
Dass Deutsche und Russen in vielen Bereichen ganz ähnlich ticken, glaubt auch Ulf Schneider: „Mental gesehen, ist es (…) schwieriger „Made in Germany“ einem Franzosen als einem Russen zu verkaufen.“ Der Gründer und Geschäftsführer der Schneider Group, ein vor allem in den GUS-Staaten tätiges Beratungs- und Dienstleistungsunternehmen, setzt sich mit weiteren Unternehmern für einen gemeinsamen Wirtschaftsraum „von Lissabon bis Wladiwostok“ ein. Ein Arbeitskreis soll die ursprünglich von Putin forcierte Idee wieder salonfähig machen. Mit einem wirtschaftlichen Schulterschluss zwischen der Europäischen und Eurasischen Union entstünde die größte Freihandelszone der Welt – und ein starker Gegenspieler zu China und den USA. „Die EU sollte sich nicht damit begnügen, nur die dritte Geige in der Welt zu spielen“, so Schneider. Für deutsche und andere ausländische Unternehmen stelle Russland ein Türöffner zur 2015 gegründeten Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) dar, der auch Kasachstan, Armenien, Kirgistan und Weißrussland angehören. Gegenüber dem Nachrichtenportal „Sputnik“ sagte Schneider, Russland habe, „was Digitalisierung und Entbürokratisierung betrifft“, eine sehr dynamische Entwicklung vollzogen. „Da kann sich Deutschland inzwischen eine Scheibe abschneiden.“ Auch laufe der Zahlungsverkehr unter den Banken in Russland viel effizienter ab.
Die Rechnung, mit den Sanktionen der russischen Wirtschaft zu schaden, ist nicht aufgegangen.
Russlands Wirtschaft zeigt sich in den vergangenen Jahren äußerst stabil. Die durch den Einbruch des Ölpreises, dem damit verbundenen Rubel-Verfall und die ersten Sanktionen westlicher Staaten ausgelöste Wirtschaftskrise 2015 hat das Land hinter sich gelassen. Die Konjunktur ging damals um 2,3 Prozent zurück. Im darauffolgenden Jahr erholte sich die Wirtschaft bereits wieder, viel schneller als es Forschungsinstitute und Wirtschaftsexperten angenommen hatten. 2018 legte das BIP um 2,3 Prozent zu, stimuliert von der niedrigen Inflation und sinkenden Zinsen.
Der Internationale Währungsfonds (IWF) schätzte vor kurzem den Effekt der Sanktionspolitik auf das russische Wirtschaftswachstum auf nur 0,2 Prozentpunkte ein. Wer fügt wem mit seinen Sanktionen eigentlich mehr Schaden zu? Gut möglich, dass Präsident Putin recht hat, wenn er behauptet, dass die Maßnahmen den Europäern wirtschaftlich mehr geschadet hätten als den Russen. Die Rechnung der westlichen Staaten, allen voran Deutschland, ist nicht aufgegangen. Denn die Sanktionen zeigten Russland und den Unternehmen, dass sie sich unabhängiger vom Ausland machen müssen. Die Auslandsverschuldung ging zurück, während die Währungsreserven wieder kontinuierlich zu steigen begannen.
Laut einer aktuellen Studie des Beratungsunternehmens „Ernst & Young“ hat sich das russische Geschäftsklima für ausländische Investoren verbessert. Paradox: Die USA drohen Ländern, die mit Russland Geschäfte machen, mit hohen Strafen. Dabei stehen gerade US-amerikanische Unternehmen bei den ausländischen Direktinvestitionen ganz oben. 2018 investierten sie sogar mehr als doppelt so viel wie europäische Investoren. Jedes amerikanische Unternehmen investierte im Schnitt etwa 224 Millionen US-Dollar, ein europäisches rund 90 Millionen US-Dollar.
Der IWF rechnet für die russische Wirtschaft auch in den kommenden Jahren mit einem stabilen Wachstum von etwa zwei Prozent. Die Arbeitslosenquote ist seit Jahren rückläufig. 2019 betrug sie 4,7 Prozent. Im internationalen Vergleich ist das ein erstaunlich guter Wert. In den 27 EU-Staaten lag die Quote bei 6,8 Prozent, in der Eurozone bei 7,6 Prozent. Allerdings drückt eine niedrige Arbeitslosigkeit nicht zwangsläufig die Stärke einer Volkswirtschaft aus. In Russland ist der Arbeitnehmerschutz stark ausgeprägt, für Unternehmen ist es oft schwierig, russische Mitarbeiter zu entlassen. Ein adäquates Mittel in unruhigen Zeiten sind Lohnkürzungen. Das belegt auch ein Bericht des Moskauer Zentrums für strategische Forschung über die Entwicklungen auf dem russischen Arbeitsmarkt zwischen 1991 und 2015. Er zeigt, dass die Beschäftigungsquote in Russland relativ krisenfest, nahezu immun gegenüber wirtschaftlichen Schwankungen ist. Allerdings gibt es große Unterschiede bei den Gehältern. Selbst wenn Arbeitskräfte in Russland schlecht bezahlt werden, halten sie an ihrer Arbeitsstelle fest. Das ist für die meisten immer noch besser, als von der „Stütze“ zu leben. Denn das ist nahezu unmöglich. Das Arbeitslosengeld beträgt umgerechnet maximal 110 Euro – und das bei steigenden Lebenshaltungskosten. Zum Vergleich: Der Mindestlohn liegt in Russland bei derzeit etwa 160 Euro. Außerdem verlieren Arbeitslose den Anspruch auf staatliche Unterstützung, sobald sie ein, manchmal auch zwei Jobangebote des Arbeitsamtes ausschlagen. Eine solche Praxis ist in den meisten osteuropäischen Ländern üblich. Optimistisch stimmt eine aktuelle Umfrage der russischen Online-Jobbörse „SuperJob“. Demnach plant immerhin jedes dritte Unternehmen, die Löhne seiner Mitarbeiter in naher Zukunft zu erhöhen.
Ein Problem für die russische Wirtschaft stellt – wie in ganz Osteuropa – der Mangel an Fachkräften dar. Um die Folgen abzufedern, sollen russische Arbeitskräfte länger arbeiten und ausländische Spezialisten angeworben werden. In allen Bereichen werden qualifizierte Mitarbeiter nachgefragt. Facharbeiter, Mechaniker, aber etwa auch Schneiderinnen bzw. Näherinnnen werden auf dem russischen Arbeitsmarkt händeringend gesucht. Auch in der schnell wachsenden IT-Branche gibt es bereits heute einen Mangel an Personal aus Russland. Auch russische Unternehmen aus der Agrarindustrie sind auf der Suche nach Spezialisten und werben mittlerweile auch Arbeitskräfte aus dem Ausland an.
Fluch oder Segen? Öl- und Gaslieferungen machen über die Hälfte der russischen Exporte aus.
Russlands Wirtschaft profitiert von seinem ungeheuren Öl- und Gasreichtum. Das Land verfügt über 16 Prozent aller mineralischen Naturressourcen der Welt – über knapp ein Drittel der weltweiten Erdgasvorräte und über die Hälfte aller Kohle-Reserven. Gesegnet ist Russland außerdem mit Eisen, Kupfer und anderen Metallen. Allerdings sehen einige Experten (aufgrund stark sinkender Preise) in der Rohstoff-Abhängigkeit – allein Öl und Gas machen fast 60 Prozent der russischen Exporte aus – eine große Gefahr. Auch die Weltbank hatte in einer Mitte 2019 vorgelegten Analyse auf dieses Risiko hingewiesen. Allerdings exportiert Russland genau so viel Rohstoffe wie weltweit nachgefragt werden. Natürlich schmerzt der Rückgang der Preise, aber dieser hat kaum Auswirkungen auf den tatsächlichen Umfang seiner Ausfuhren. Außerdem können mögliche Einnahmeverluste durch die Abwertung der einheimischen Währung teilweise kompensiert werden. Impulse für den Export erhofft sich Russland vor allem von den neuen Pipelines „Nord Stream 2“ (Ostsee) und – dem viel größeren Projekt – „Sila Sibiri“ (vorrangig für den Gastransport nach China bestimmt).
Eine wichtige Rolle für die Volkswirtschaft spielt nach wie vor die Agrarindustrie, die knapp vier Prozent des BIP ausmacht (Produktion: 36 Prozent, Dienstleistungen: 60 Prozent, 2018). Der Sektor wird seit den russischen Importverboten sogar immer bedeutender (und verfügt demzufolge über ein hohes Potential für Zulieferer). Schließlich will die Regierung eine autonome Versorgung erreichen – ein nationales Prestigeprojekt, das mit Fördergeldern in Milliardenhöhe unterstützt wird. Auch auf dem Weltmarkt nimmt der Einfluss Russlands zu. Bei den Exporten jagt ein Rekord den nächsten. Für 2020 rechnen Experten mit der zweitbesten Ernte-Ergebnis beim Getreide seit dem Ende der Sowjetunion. Um die Wirtschaft nach vorn zu bringen sind weitere nationale Projekte gestartet worden, für deren Umsetzung die Regierung bis 2024 umgerechnet rund 360 Milliarden Euro ausgeben will.
Der erwähnte Reichtum an natürlichen Ressourcen als Basis und die derzeit gute Wirtschaftslage lässt den Wohlstand in Russland kontinuierlich steigen. Kaufkraftbereinigt lag das BIP pro Kopf im Jahr 2018 bei 27.000 US-Dollar. Zur Wahrheit gehört aber auch: Ein beträchtlicher Teil der russischen Gesellschaft lebt „von der Hand in den Mund“. Gerade das Gefälle zwischen Stadt und Land ist diesbezüglich immens. Nur etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung gehören der Ober- und Mittelschicht an. Traurig: Viele Russen leben heute schlechter als zu Sowjetzeiten. Manch einer fragt sich da schon, was besser ist: ein Leben in der Finsternis oder ein Sterben im Licht …
Vorsicht bei Verträgen: Bei möglichen Konflikten wird jedes Wort auf die Goldwaage gelegt.
„Verstehen kann man Russland nicht, und auch nicht messen mit Verstand. Es hat sein eigenes Gesicht. Nur glauben kann man an das Land.“ Der russische Dichter und Diplomat Fjodor Tjuttschew (1803-1873) wollte mit dem Bonmot den Nationalcharakter des russischen Volkes beschreiben. Und bis heute hat es seine Gültigkeit. Die „russische Seele“ ist ein Mythos, der sich schwer beschreiben lässt. Doch gibt es durchaus Eigenschaften, die „typisch russisch“ sind. Zum Beispiel das Zusammengehörigkeitsgefühl. Die meisten Russen definieren sich über die Gemeinschaft: Die Interessen des Einzelnen müssen vor den Interessen der Gruppe zurückstehen. Bekannt sind sie auch für ihre offenen Gefühlsäußerungen, denen im Vergleich mit rationalen Erwägungen häufig mehr Gewicht zugemessen wird, was westliche Ausländer oft irritiert.
Wenn Unternehmen russische Mitarbeiter suchen, sollten sie auch deren Mentalität kennen. Aus unserer langjährigen Erfahrung als Personalvermittler und Headhunter in Russland kennen wir die Eigenheiten der Russen genau. So wissen wir, dass sie in ihrer Art meistens sehr direkt, aber auch äußerst hedonistisch veranlagt sind. Will man mit russischen Geschäftspartnern einen Vertrag abschließen, sollte man auf jedes noch so kleine Detail achten. Bei möglichen Konflikten wird nämlich jedes Wort auf die Goldwaage gelegt. Muss sich ein Russe für ein Stellenangebot entscheiden, so geschieht das relativ schnell. Dann gibt es ein klares Ja oder Nein. Schwanken, zögern, zaudern – das ist nicht die russische Art. Darin unterscheiden sich russische Kandidaten übrigens von denen in Ostmitteleuropa oder auch der Ukraine.
Der Kosmopolitismus, der in der „EUdSSR“ gepflegt wird, ruft beim Russen eher Abneigung hervor. Mit Toleranz oder Liberalität kann er nicht wirklich etwas anfangen. Die Russen sind wahre Patrioten – und ziemlich robust. Auch die Jungen werden nicht so in Watte gepackt und verweichlicht wie ihre Altersgenossen im westlichen Europa.
Ein Thema für sich ist das Verhalten von Führungskräften in Russland und anderen Staaten in Osteuropa. In Deutschland wird das dortige Führungsverhalten sehr oft als ein Erbe der kommunistischen Zeit angesehen. Leitende Angestellte seien autokratischer, weniger partizipativ und human als ihre Kollegen in Westeuropa, dafür mehr statusorientiert. Wer so stark verallgemeinert, lässt sowohl den Einfluss der Transformationsprozesse als auch die kulturellen Unterschiede im östlichen Europa komplett außen vor. Ein Ungar tickt anders als ein Russe, Beschäftigte in Polen und Ungarn legen viel mehr Wert auf ein kollegiales Miteinander und einen kommunikativen Führungsstil als es in Russland (oder auch in Deutschland) der Fall ist. Wissenschaftliche Studien kommen zum Schluss, dass die Russen im Vergleich zu den Deutschen weniger zukunfts-, leistungs- und konfliktorientiert sind, dafür aber (sogar im Vergleich zu den Polen) weitaus gruppen- und familienbezogener.
Ein russischer Geschäftsführer sollte sich über Statussymbole präsentieren. In Tschechien oder Ungarn käme das gar nicht gut an.
Generell lässt sich beobachten, dass die russische Bevölkerung, aber auch die in anderen mittel- und osteuropäischen Ländern relativ stark im Hier und Jetzt leben. Dafür spricht auch unsere persönliche Erfahrung, dass russische Arbeitnehmer ihren Job auch dann kündigen, wenn sie keinen Plan B haben. In Tschechien, Polen, Ungarn oder der Slowakei würde das wirklich nur den wenigsten einfallen. Die Alles-oder-nichts-Mentalität der Russen kennt keinen Kompromiss, keine „goldene Mitte“.
Russische Arbeitskräfte bevorzugen einen klaren und autoritären Führungsstil. Dass die Erwartungen an das Führungspersonal in Osteuropa differenzierter sind als man es erwarten könnte, zeigen auch die unterschiedlichen Einstellungen zum „autonomen Führungsverhalten“ (unabhängig, individualistisch). Arbeitskräfte in Russland, Tschechien und Polen würden das akzeptieren, bei ungarischen Mitarbeitern ist so ein Verhalten zum Beispiel eher nicht erwünscht.
Und es gibt noch andere Unterschiede: In der tschechischen Gesellschaft zum Beispiel herrscht ein ganz anderes Statusdenken vor als in Russland. Ein russischer Direktor oder Geschäftsführer muss sich entsprechend seiner Position präsentieren – etwa über Statussymbole wie ein teures Auto oder eine Rolex. In Russland wird ein solches Verhalten von Führungskräften sogar erwartet, in Tschechien oder Ungarn hingegen käme es gar nicht gut an – noch weniger als in Deutschland.
Viele Menschen in Mittel-/ Osteuropa zeichnen sich durch ein hohes Maß an Kreativität und Improvisationstalent aus. Im autoritären Stil geführt, werden sie diese Fähigkeiten vor allem dazu benutzen, Regeln zu umgehen und unangenehmen Aufgaben auszuweichen. Ein nicht naiver, sondern aufgeklärter und bewusster partizipativer Führungsstil dagegen ermutigt Mitarbeiter dazu, ihren Verstand und ihre Talente produktiv im Firmeninteresse zu nutzen. Das Ziel eines aus dem Westen nach Mittel-/Osteuropa entsandten Managers muss es daher sein, die Vorzüge beider Welten zu verbinden – die bestehende Kreativität mit westlichen Ideen von Qualität, Struktur und Zuverlässigkeit.